„SUSAN, SIE ÜBERLEBEN OHNE DICH“
November 23, 20203 EINFACHE STORIES / LEARNINGS VON MEINEM SOHN (11): „ICH BIN DOCH KEIN ROBOTER, ÜBER DEN BERICHTET WIRD (…)“
November 23, 2020Wir verallgemeinern täglich. Das ist okay. Wie Hans Rosling bestätigt, besteht die Herausforderungen darin zu erkennen, welche Kategorisierungen irreführend sind, wie z.B. „Entwickelte Länder“ und „Entwicklungsländer“. Ich sagte bereits, ich bin froh, dass ich endlich ein Buch gefunden habe, das meine Art die Welt zu sehen und zu hinterfragen mit Fakten untermauert.
Ich zitiere Hans Rosling zu Beginn (Factfulness, 2018), frei übersetzt:
Tatsachenwahrheit ist (…) daran zu denken, dass Kategorien irreführend sein können. Wir können nicht aufhören zu verallgemeinern, und wir sollten es nicht einmal versuchen. Was wir versuchen sollten, ist zu vermeiden, dass wir falsch verallgemeinern.“
Ich arbeite selbst täglich daran, denn die Art, wie wir die Welt sehen, kann sogar Weiterentwicklungen blockieren, wie hier die 3 nachfolgenden Stories zeigen.
Falsche Kategorisierungen blockieren unsere Gedanken und beeinflussen, wie wir mit den Anderen umgehen.
#STORY 1: „FRAU OMONDI, SIE SIND IN KENIA AUFGEWACHSEN. DA HABE ICH ERWARTET, DASS SIE MIR EIN REALES BEISPIEL ZEIGEN, WIE SIE DORT LEBTEN“.
Im Rahmen meines Studiums sollte ich eine Hausarbeit schreiben und wählte das Thema „Tropical Forests“ zusammen mit einer Gaststudentin aus Russland. Wir haben tatsächlich bewusst ein Fallbeispiel aus Kenia genommen und uns damit auf „globaler Ebene“ auseinandergesetzt. Suchmaschinen waren noch nicht so fortgeschritten wie heute aber es sei versichert, wenn ich etwas mache, mache ich es richtig.
Ich tauschte mich mit Freunden aus Kenia aus. Wir recherchierten und haben mit Herzblut das Thema herausgearbeitet. Damals war das Ergebnis in Projektor-Folien sichtbar. Der Prozess war alles andere als einfach aber wir taten alles und mit Hilfe von meinem Freund (jetzt mein Mann) haben wir eine tolle Präsentation gezaubert.
Und wir konnten super präsentieren am Tag X, der Beifall sagte alles.
…nur um eine schlechtere Note zu bekommen als „erwartet“.
Wer mich kennt, weiß, wenn mir etwas wichtig ist, hinterfrage ich gerne Entscheidungen. Ich möchte die Gründe dahinter wissen. Natürlich kamen mir erst die Tränen, denn, wie ich bereits sagte, dachte ich, super Noten sind meine einzigen Türöffner, damit ich in Zukunft keine Toiletten mehr für Fremden putzen muss.
Ich bat deshalb um ein Gespräch bei meinem Professor. Er willigte ein und sagte mir seinen Grund: „Frau Omondi, Sie sind in Kenia aufgewachsen. Da habe ich erwartet, dass Sie mir ein reales Beispiel zeigen, wie Sie dort lebten“.
Und ich voller Hoffnung, dass er mir jetzt zuhören wird und seine Entscheidung rückgängig macht „…ah jetzt verstehe ich. Nur, ich bin am Victoria See aufgewachsen. In dieser Gegend gibt es kaum Wälder. Und wir hatten nicht die Möglichkeit solche Orte zu besuchen. Ich habe nie in einem tropischen Wald gewohnt, geschweige besucht. Das Thema hat mich lediglich sehr interessiert; ich habe keine Bindung zu den Wäldern“.
„…ja, aber…“
Ich sagte weiterhin „Das finde ich nicht fair. Das ist sicher gegen die Notenvergaberegeln, basierend auf so einer Annahme. Ich erwarte doch auch nicht, dass jeder Deutscher mit mir sein Bodensee-Erlebnis teilt“.
Professor: „Wissen Sie, ein Professor darf so entscheiden.“
Okay. Ich gab auf und fand es schade, dass nun meine Freundin aus Russland auch dadurch bestraft wurde.
Klingt harmlos? Vielleicht, aber wenn wir solche Annahmen und solche Entscheidungen treffen nehmen wir anderen ihren Mut weg und sorgen dafür, dass der Teufelskreis weiterhin stabil bleibt. Wo bleibt denn eine Blickwinkelveränderung?
Nun denkst du vielleicht „arme Frau Omondi“ – Nein, nur kein Mitleid, denn ich habe auch etwas erwartet. Ich fragte meine Freunde damals „Wie kann denn ein gebildeter Professor so etwas behaupten? Er sollte doch wissen, dass Verallgemeinerung nicht gut ist“.
Nun, warum darf ich etwas von ihm erwarten und er nicht von mir? Wie immer, wir alle tragen die Verantwortung. Heute weiß ich, wenn ich die Erwartungen nicht geklärt habe, darf ich nicht enttäuscht sein. Natürlich bin ich dennoch ab und zu überrascht.
Ich finde, die meisten „Schocks“ entstehen, weil wir etwas bereits erwarten oder eben gar nicht erwarten. Als ich in Kenia aufwuchs, war es doch klar, dass ein Europäer mehr weiß, sauberer und intelligenter ist. Das weiß doch jedes Baby. Und aus diesem Grund waren unser schlimmster Albtraum, Achtung, die Studenten WGs. So ein Ekel hätte kein Kenianer in Europa erwartet. Ich war regelrecht „traumatisiert“. Ich verarbeite das immer noch und ich hasse WGs aber nur, weil das Bild in meinem Kopf zerstört worden war. Doch das belassen wir so heute und frage dennoch bewusst: Warum darf ein Professor auch nicht daneben liegen?
Um den Verallgemeinerungsinstinkt zu kontrollieren, schlägt Rosling u.a. vor, frei übersetzt:
„Vorsicht vor der Mehrheit. Die Mehrheit bedeutet einfach 51%, 99% oder etwas dazwischen“.
Wie oft passiert uns das in den Unternehmen? Sind wir uns über die Folgen bewusst? Ich auf jeden Fall arbeite jeden Tag dran.
Story 2: „AUTO BRUMM BRUMM“
…oder wenn wir Deutschen es als höflich finden, dem Fremden mit unserer Sprache entgegenzukommen.
Ich liebe das Buch „Gebrauchsanweisung Deutschland“, ein Buch für jeden, der in Deutschland lebt und mit Humor bereit ist anderen zu begegnen.
Doch meine Story fand statt, bevor ich das Buch kannte.
Fahrschul-Unterricht: Meine Freundin aus Indien und ich sind nach einer Vorlesung zusammen zum Unterricht hingegangen. Das heißt, wir hatten noch keine Zeit uns zu unterhalten, wie die Vorlesung war und wie immer gab es zwischen uns etwas zum Lachen. So setzen wir das fort im Fahrschul-Unterricht. Der Fahrschullehrer voll überzeugt, dass er etwas Spannendes erzählte und der einzige Grund, warum wir ihm nicht zuhörten war, weil wir seine Sprache nicht verstehen.
Dann sagte er, auf uns schauend, ganz laut, „AUTO BRUMM BRUMM“ und visualisierte seine Erzählungen. Wir lachten erst recht. Ich lache noch heute darüber, wenn ich mich an diese Szene erinnere.
Als ich 2005 von einer Freundin das Buch „Gebrauchsanweisung Deutschland“ bekam, dachte ich: Ich habe Beispiele, die ausnahmsweise so eine Wahrnehmung belegen. So schreibt Maxim Gorski „Leider hat sich noch kein Sprachwissenschaftler mit dem Phänomen der freiwilligen Sprachregression beschäftigt“ und sagt weiterhin „Viele Deutsche verlassen sich lieber auf den optischen als auf den akustischen Eindruck“. Er erzählt von einem Palästinenser, der seit 40 Jahren in Stuttgart lebte und sogar schwäbisch konnte. Als dieser von einem Pförtner im Rudimentärdeutsch angesprochen wurde, antwortete er sinngemäß, „es ist schon so weit, dass Ausländer nun auch auf der Behörde arbeiten“. Blickwinkelveränderung.
Diese „galoppierende Sprachregression als Mittel der Völkerverständigung“ wie Gorski es nennt ist mega lustig, wie ich es seit Jahren erlebe. Ich wähle aber die gute Seite darin zu sehen; die Absicht dahinter ist sehr gut.
So ergeben sich manchmal spannende Begegnungen. In Island ist mir das wieder sehr gut aufgefallen, als zwei Frauen sich auf Deutsch unterhielten und ich plötzlich eine Antwort ebenfalls auf Deutsch gab, auf eine Frage, auf die sie selbst keine Antwort hatten. Ich liebe solche Gesichter.
Nirgends bin ich zu Hause oder eben überall. Wenn Gorski schreibt „Ihr Fehler, Sie sehen asiatisch aus“, kannte er Kenianer noch nicht, denn da können wir genauso sagen „Ihr Fehler, Sie sehen nicht kenianisch aus“.
Wenn ich in Kenia bin, kommt es oft vor, dass Menschen überrascht sind, dass ich mit meinen Kindern meine Muttersprache „Luo“ spreche. Wie kann ich nur? Jeder Kenianer weiß es doch, dass wir alles Mögliche machen, damit wir Fremden das Leben leichter machen (Folgen der Kolonialisierung sind immer noch nicht weg).
Ach, und wenn du denkst, alle Deutsche mögen die galoppierende Sprachregression täuschst du dich. So sagte mir ein Fremder hier in Deutschland, als er hörte, dass ich mit den Kindern nicht auf Deutsch rede „Hier redet man Deutsch“. Er hatte recht. Was er aber verpasst, ist, dass beides geht.
Wir sollten lernen, die Vielfalt zu akzeptieren, ohne Angst zu haben, dass wir etwas dabei verlieren.
Du nix verstehen? Ich auch nix Deutsch.
Mir hilft es, zu reflektieren, meine Annahmen täglich zu hinterfragen.
Story 3: „WIR SIND KEINE EUROPÄER, UNSERE NASE HÄLT DAS AUS, BITTE MACHE DAS GLAS VOLL“
…aber dafür brauchen wir keine Bank.
Hans Rosling erinnert uns, dass wir unser Wissen über die Welt, unsere Weltanschauung immer wieder hinterfragen sollen.
Jedes Mal, wenn ich in Kenia zu Besuch bin, ertappe ich mich selbst, wie ich Kenia im Kopf gespeichert habe. Dabei hat sich eine Menge seit 1997, als ich Kenia verließ, geändert.
So sagte ich einmal meinem Bruder mit leichter Panik: Pass auf, wir brauchen noch Kenianische Shillings. Die Bank schließt morgen“. In meinem Kopf war „EURO, Kreditkarte – geht kaum hier, wie kommen wir weiter“.
Ich werde seinen Gesichtsausdruck nicht vergessen, als er mir liebevoll und zugleich schockiert über mein Unwissen sagte „Wozu brauchst du eine Bank“ und zeigt mir sein Smartphone. Erstens gibt es MPESA und zweitens, er verdient Geld, keine Steine.
Natürlich: Jahrelang dachte ich, es ist meine Aufgabe, allen zu helfen. Ich habe damit beigetragen toxische Abhängigkeit zu züchten und auch, wie viele andere, die von hier aus blind spenden, den Eindruck erweckt, dass es hier in Europa Geld regnet. Das Problem ist, diese Gedanken steuern mein Handeln. Ich musste erst lernen zu akzeptieren, dass es eine Menge Menschen in Kenia auch gibt, die mir das Leben leichter machen möchten, die nicht auf mich angewiesen sind, sondern besser verdienen als du und ich zusammen.
Die Welt ändert sich, aber das Wissen in uns, unsere Einstellung nicht im gleichen Tempo.
Auch wir in Kenia, gefühlt seit meiner Geburt, nehmen an, dass Europäer nur einen Grund haben, warum ein Glas nie voll eingeschenkt werden soll: die große Nase.
So sagte mir wieder ein anderer Bruder, als ich Getränke einschenkte: „Wir sind keine Europäer, unsere Nase hält das aus, bitte mache das Glas voll“:-)
Vielleicht könnt ihr mir heute helfen meine Freunde und Verwandte in Kenia aufzuklären: dass der Grund, warum wir Gläser nicht voll einschenken ein anderer ist und nicht, weil wir Angst haben, dass die Nase nass wird und im Falle von Tee, sogar verbrannt werden könnte. Aufklärung hilft. Oder ist es doch die Nase, die uns im Weg steht?
Wir sollten unsere Kategorien hinterfragen. Meine Beispiele heute klingen harmlos. Doch ich weiß genau, wie auch Hans Rosling sagt, solche Annahmen können Jahrelang zu Entscheidungen führen die sogar Leben kosten, auch innerhalb der Länder.
Dieser Satz von ihm hilft mir sehr, meine Anschauung zu hinterfragen. Frei übersetzt:
„Gehe davon aus, dass Menschen keine Idioten sind. Wenn etwas merkwürdig aussieht, sei neugierig und bescheiden, und überlege, inwiefern dies eine kluge Lösung ist“
Nun zu dir:
Bist du neugierig auf die Welt? Du verstehen?
Susan Omondi, 18.10.2020